Corona-Lesestoff: Sehnsucht Gardasee

Sehnsucht Gardasee 2020

Von Jens-Uwe Herrmann.

In diesem Jahr ist alles anders. Dass öffentliche Leben wurde und wird Zug um Zug heruntergefahren. Die Grenzen nach Italien, Dänemark, Polen, Tschechien dicht. Kommunale Sporteinrichtungen geschlossen, Kinder- und Jugendtraining bis auf weiteres eingestellt. Drahtseilakt abgesagt, Hamburg auch…

Die alljährlichen Trainingslager der Jugend über die Osterferien am Gardasee wurden schon vor Wochen abgesagt. Die Osterfeiertage rücken näher und für mich, wie für viele weitere Seglerfamilien wird das diesjährige Fehlen dieses, nachgeradezu rituellen Saisonauftakts nun allmählich schmerzlich bewusst.

Versatzstücke der Erinnerungen kommen hoch. Zeit sich diesen mal hinzugeben… 

 

Als Erstes erscheinen Bilder vom Lake Garda Meeting der Opti:
Wenn wir, meist am Karfreitag über Nacht mit dem Trailer zum Brennerpass hochfahren, waren Bekannte in Familie meist schon eine Woche da. Für deren Junjor bedeutete das Trainingslager auch die Teilnahme am Lake Garda Meeting. Mit bis zu 1400 teilnehmenden Booten in einer Einhandklasse immer wieder ein Garant für den Einzug ins Guinnessbuch der Rekorde.
Für den früh aufstehenden Beobachter bietet die Regatta ein atemberaubendes Schauspiel der aus Riva, Arco und Torbole auslaufenden Optiflotte. Perlenschnüren gleich rieseln die Segel der Jüngstenklassen von den Sliprampen des Nordufers und klumpen sich in Sichtweite des Ufers in kleine Grüppchen. Dem geneigten Beobachter erschließt sich in dem Chaos mit der Zeit ein System. Entenküken gleich sammeln sich die Kleinen um ihre Mutterenten, den Trainerbooten. Teilweise ist ausgerechnet bei diesen Jüngsten beeindruckende Seemannschaft zu sehen. Dann geht es im Schlepp oder in einer kurzen Aufwärmeinheit zu den Regattafeldern auf dem See und bilden den Tag über eine imposante Wand aus Optisegeln, welche die gesamte Seebreite einnehmen wird.

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Die Brandenburger Laser fahren immer zunächst ihr eigenes Ding, das Laser Youth Easter Meeting vor Malchesine. Ein Highlight jedes mal die Tour von Malchesine zurück nach Arco. Danach füllen die Boote auch noch die letzte Lücke im proppenvollen Circolo Vela Arco. Und die 420er? Für die Segler aus Bayern, Berlin und Brandenburg ist es mittlerweile wie eine Art Klassentreffen zum Saisonauftakt. So vertraut, dass deren Trainer auch gemeinsame Wettfahrten organisieren.

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Wind, das ist das eine Schlüsselwort für die Sehnsucht.
Ich wache von einem monotonen Rauschen auf, und assoziiere eine Klimaanlage. Es ist kalt. Besonders kalt. Ich stehe auf um das Fenster zu schließen. Es dämmert erst, aber es ist ungewöhnlich hell draußen. Auf den zweiten Blick erschließt sich der Grund. Die Hänge des Tals sind bis auf 200 Höhenmeter über unserem Level verschneit. Das Rauschen der Klimaanlage ist der Vento, der Vormittagswind. Von den eingefleischten Oraseglern gern als Mädchenwind bezeichnet. Ein früher Vento. Ein kräftiger Vento. Die Mittagsflaute bleibt aus. Heute gibt es keine Ora. Die kalten Luftmassen aus den Bergen fallen weiter das Tal herunter und beschleunigen. Ab Mittag sind 7bft Grundwind erreicht. Surver mit Segeln in Manngröße hetzen über das Wasser. Die meisten Orasegler kneifen. Die Laserflottille wagt es kurz und kommt mit zwei gekürzten Masten wieder herein. Die Contender organisieren ein Motorboot und gehen mit zwei Booten heraus. Neben der Akrobatik von Jörg und Thomas am Trapez beeindruckt heute vor allem das robuste Handwerk vom Bootsbauer „Schappi“ Joachim Harprecht.

Das Trainingslager der Contender
begann am Dienstag, segelklar 9.00 Uhr. Die Disziplin der Jugendklassen greift auch auf die Älteren durch. Aufgrund der Zahl der angemeldeten Teilnehmer wurden zwei Fleets gebildet. Der Dienstag beginnt zunächst mit Theorie und Eintrimmen der Boote. Ein von Westen kommendes Wolkenfeld machte die Thermik platt. Nachmittags dann im Schlepp zu einem Windfeld vor Riva, der Gardasee hat halt ganz andere Dimensionen und Möglichkeiten. Dort segeln wir um drei dicht ausgelegte Tonnen Manöver. Ständig beobachtet und korrigiert von Trainer Christoph Engel.

Abends bei der Videoauswertung spüre ich, dass die Fettverbrennung des Weihnachspecks eingesetzt hat. Nach dieser Woche wird der Neo wieder besser passen. Und das Trainnigslager wird später unter der Bezeichnung „boot camp“ bekannt.

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Wir hatten in der Woche nach Ostern die Betreuung
von zwei 420er-Teams übernommen. Verabredet war, am Ostersonntag morgen mit frischen Brötchen vor der Tür stehen und Schichtwechsel mit den Partnereltern. Auf der Fahrt galt es noch ein Motorboot in Leipzig anzuhängen. Und so stehe ich um 6.45 Uhr vor der um 7.00 Uhr öffnenden Panificio in Torbole, vor mir bereits 4 Optieltern den international geführten Gesprächen nach.
Um nicht unnötig Schlaf nachzuholen baue ich mit einsetzender Ora das Boot auf und drehte mit meinem Junjor als „Vorschoter“ bei satt 4Bft eine Runde über den See. Obwohl uns beiden bei der einzigen Kenterung das Erklimmen der Kante gelingt, kehren wir beide gut durchnässt zurück. Aber immerhin ein Ausblick, wie der Segelsport nach der Opti- und Jugendbootzeit durchaus rasant weitergehen kann.

Der Mittwoch war für die 420er Layday
und wir begeben uns in Großfamilie auf die Spuren des Konzils zu Trient. Der Boden rund um den See ist satt mit Kultur getränkt. Man kann den Spuren Goethes in Malchesine folgen, der Architektur Palladios in Vincenza. Verona ist gleich in der Nähe, sogar Venedig ist erreichbar.

Am Freitag setzte sich endlich die ersehnte Thermik endgültig durch.
Für die Silverfleet vormittags bedeutete das Manövertraining um 2 Treibtonnen und Trimmanweisungen von Christoph im Motorboot. Nachmittags finden sich Frank und ich zusammen, um ein paar längere Trimmschläge zu fahren. Längere Trimmschläge bedeuten hier, dass man mal gut eine Seemeile, ohne Manöver, ohne Störungen durch böigen oder drehenden Wind geradeaus fahren kann. Das ist Gardasee. Brutaler lassen sich Unzulänglichkeiten in Trimm und vor allem Handling nicht aufzeigen. Und für mich, wie weit hier der Weg wohl noch ist. Auf die Art schafften wir es bis Sopine. Dort hielt uns eine merkliche Aufhellung des Wassers in Luv davon ab, bis nach Limone vorzustoßen. Die Ora ist ein thermischer Wind, bedeutet er hat räumlich und zeitlich klare Begrenzungen. Lieber wieder zurück wo Druck ist.

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Eine der ersten Erinnerungen an den Gardasee ist die Wand.
Vom Circolo Vela Arco auslaufend erscheint das senkrecht abfallende Westufer südlich von Riva wie zum greifen nahe. Also um die Surfschulen herumnavigierend etwas Abstand zum Ufer gewinnen. Im freien Wind das Segel dichtnehmen, die Ora einfangen und close reach mit Kurs auf die Wand. Das Boot schießt los, leichtfüßig über die Wellen tänzelnd. Die Gischt spritzt und die Wand, die Wand bleibt in gleichbleibender Entfernung stehen. Es ist wie ein Trugbild. Das Boot macht Fahrt, Höllenfahrt. Minute um Minute in rasender Fahrt. Die Wand bleibt stehen. Irgendwann nach einer Ewigkeit des Segelrausches ändert sich das Bild. Die obere Kante der Wand entschwindet dem Gesichtsfeld. Und jetzt werden einem auch allmählich die räumlichen Dimensionen hier bewusst. Das sind die Alpen.

Und was passiert, wenn man tatsächlich die Wand erreicht hat? Man sieht nun auf der gegenüberliegenden Seite eine Wand. Etwas unterhalb von Torbole, zum Greifen nahe…

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„Kap Hoorn, Sir!“
Die Stimme ist nur in meinem Kopf. Im Kopfkino laufen gerade Szenen aus „Master & Commander“ durch. Ich stehe „stolz und aufrecht auf dem Achterdeck“ und nähere mich Corno die Reamol. Hier ist die Ora voll entwickelt und erfährt an dem Berg eine Konvergenz. Diese ist über die gesamte Seebreite spürbar aber nicht so wie unmittelbar am Ostufer. Wie sollte es anders sein, gibt es an dieser Stelle einen Surfspot, irgendwie am fast senkrecht abfallenden Ufer angelegt.

Beim Eintritt in die Kompression drängen sich Beschreibungen von Kap Horn förmlich auf. Schlagartig ist alles dunkler und bedrohlich, das Wasser, der Himmel, Wind pfeift, die Welle wird höher und schäumt. Jetzt ist keine Zeit mehr für Kopfkino, ich habe mit mir selbst zu tun. Abseilen, an der Kante zurück bis zum Achterdeck und der verdammten Sucht nach Speed erliegen.
Dabei abfallen, bis das Boot wie „auf Eiern“ über die Wellen tanzt und man feststellt, dass Anluven keine Option zum Druckablassen mehr ist. Absurd auch, hier Wenden zu fahren – kneifen gilt eh nicht.

Seit ich mit dem Contender, also überhaupt mit der Segelei wieder angefangen habe, bin ich um gestandene Halsen bemüht und fast schon stolz darauf. Hier gibt es mal wieder eine Lektion in Demut. Ich habe Schiss. Das Boot ist schneller als die Welle, deutlich schneller. Wenn ich das Boot die kurze Welle herunter beschleunige, dann will es auch schon einstechen. Ich werde so den Druck nicht los.

Mein erster Stecker war hier auf dem Gardasee. Ich sehe noch den Schwall graugrünen Wassers, der sich über das Vorschiff erhob, bevor meine DEN42 auf Tauchfahrt ging. Dies hier ist ein Bonezzi. Fülliger im Bug und mindestens 10kg leichter. Gebaut von einer Bootsbaumeisterlegende hier am Gardasee. Der Sohn Rekordweltmeister. Am Boot wird es nicht liegen.

„…in der Aufwärtsbewegung!!!“ höre ich doch noch einmal Captn. Aubrey.
Die nächste Welle fahre ich spitzer an. Das Anluven beschleunigt das Boot. Vor dem Scheitel dann abrupt abfallen und das Segel herüberreißen. Gegenruder und noch einmal anpumpen. Der Bug bleibt oben und der Rumpf setzt auf der Lufflanke der nächsten Welle wieder auf. Sicher ist anders. Aber sicher ist auch nicht schnell. Das Problem dabei, wie werde ich nun das Adrenalin wieder los.

Und wie die Sehnsucht nach dem Gardasee…

Uwe
auf GER 363 (Möbelstück)